
Buchinformationen
| Titel | Fable for the End of the World – Tränen aus Blut und Hoffnung |
| Band | Einzelband |
| Autor | Ava Reid |
| Verlag | Loewe |
| Übersetzung | Nadine Mannchen |
| ISBN | 978-3-7432-2166-6 |
| Seitenzahl | 432 |
| Genre | Dystopie |
| Bewertung | 4 von 5 Sterne |
Klappentext
Die Erde ist verseucht, der Meeresspiegel steigt und ein Konzern regiert Inesas Heimat. Dieser hat auch den Lauf des Lamms etabliert: einen tödlichen Wettkampf, der live übertragen wird und bei dem schwer verschuldete Menschen als „Lämmer“ von ausgebildeten „Engeln“ gejagt werden. Als Inesas Mutter zu tief in die Schulden rutscht, muss ihre Tochter für sie beim Lauf antreten. Doch der Kampf um Leben und Tod bringt Inesa ihrem Engel Melinoë näher als geahnt …
Meine Meinung
Ava Reid hat mit „Fable for the End of the World“ einen dystopischen Roman geschaffen, der gleichermaßen fesselt wie schockiert, der seine Leser unterhält, ohne ihnen je den Komfort einer harmlosen Fluchtlektüre zu gönnen. Stattdessen legt er den Finger schonungslos in die Wunden unserer Zeit und treibt die Fragen nach Moral, Voyeurismus und menschlicher Gier bis ins Extrem. Wir betreten eine Welt, die in einer unheilvoll nahen Zukunft angesiedelt ist – eine Zukunft, die sich erschreckend plausibel aus den Tendenzen unserer Gegenwart entwickelt hat. Hier ist Unterhaltung längst kein unschuldiges Vergnügen mehr, kein harmloses Spektakel, das man mit einer Tüte Chips und Abschalten verbindet. Sie ist zu einem perfiden Instrument geworden, das auf dem Leid und Sterben anderer aufbaut.
Reality-Shows, wie wir sie kennen, wirken im Vergleich beinahe nostalgisch und unschuldig. In Reids dystopischer Vision sind sie zu blutigen Arenen mutiert, in denen Menschen um ihr Leben kämpfen müssen, während ein sensationshungriges Publikum vor den Bildschirmen mitfiebert, applaudiert oder verächtlich buht. Hier entscheidet nicht mehr Talent oder Charisma über den Erfolg, sondern allein die Frage, wer überlebt – und wer untergeht. Einschaltquoten und Profit bestimmen den Wert eines Menschenlebens, und jede Träne, jeder Schrei und jeder Tod wird zur Ware, die sich vermarkten lässt.
Im Zentrum der Geschichte stehen Inesa und Melinoë, zwei junge Frauen, deren Leben auf den ersten Blick kaum gegensätzlicher sein könnten und die doch auf tragische Weise miteinander verflochten werden. Melinoë ist kein gewöhnlicher Mensch, sondern ein sogenannter Engel – genetisch modifiziert, ausgebildet und konditioniert, um als makellose Killerin zu dienen. Ihre Aufgabe ist es, jene zu jagen und niederzustrecken, die in den grausamen Spielshows ihr Schicksal herausfordern müssen. Sie ist Werkzeug und Symbol zugleich: das glänzende Produkt einer Gesellschaft, die sich Effizienz und Spektakel mehr schätzt als Würde und Menschlichkeit.
Inesa hingegen wächst in Armut auf. Ihr Leben ist geprägt von Mangel, von der täglichen Mühe, sich gemeinsam mit ihrem Bruder über Wasser zu halten. Mit dem kleinen Familienunternehmen verdienen sie gerade genug, um nicht vollends unterzugehen, doch Wohlstand oder Sicherheit bleiben ein fernes Versprechen. Inesas Welt ist eine des Überlebens im Kleinen, eine des ständigen Kompromisses und der Verantwortung für andere. Dieses ohnehin fragile Gleichgewicht bricht endgültig zusammen, als ihre Mutter eine Entscheidung trifft, die ebenso egoistisch wie unumkehrbar ist. Um ihre erdrückenden Schulden zu begleichen, verkauft sie im übertragenen Sinn das Leben ihrer eigenen Tochter. Inesa wird gegen ihren Willen für eine der tödlichen Shows angemeldet – ein perfides Glücksspiel, bei dem der Tod ebenso lukrativ sein kann wie das Überleben. Ob sie am Ende siegreich hervorgeht oder sterbend zu Boden fällt, macht für die Gläubiger kaum einen Unterschied. Beide Szenarien versprechen Geld, und Geld ist in dieser Welt die einzige Währung, die noch zählt. Dieser erschütternde Ausgangspunkt rückt unbarmherzig ins Licht, wie wenig ein Menschenleben in dieser Gesellschaft wert ist. Moral, Fürsorge, sogar die heiligsten Bande zwischen Eltern und Kindern werden bedenkenlos geopfert, wenn Sensationslust, Profit und der Drang, eigene Fehler zu tilgen, stärker wiegen. Die Frage nach dem Wert des Einzelnen wird so nicht abstrakt, sondern brutal konkret – und gerade deshalb so schockierend eindringlich.
Reid gelingt es, in diesem düsteren Szenario weit mehr zu erzählen als nur eine packende Überlebensgeschichte. Die Spielshow ist nicht bloß eine reißerische Kulisse, sondern ein Brennglas, durch das grundlegende Fragen unserer Gegenwart sichtbar werden. Der Roman zwingt dazu, darüber nachzudenken, wie weit wir als Gesellschaft bereit wären zu gehen, wenn Unterhaltung und totale Überwachung Hand in Hand laufen. Die ständige Beobachtung der Kandidaten, jede ihrer Bewegungen live übertragen, macht deutlich, wie sehr Voyeurismus und Kontrolle ineinandergreifen und ein Klima erzeugen, in dem Gewalt nicht nur geduldet, sondern gefeiert wird.
Erschreckend plausibel zeigt Reid außerdem, wie rasch sich Menschen an Grausamkeit gewöhnen, sobald diese in ein Format gegossen wird, das mit Spannung, Spektakel und Profit lockt. Das Leid anderer wird zur Normalität, ihr Schmerz zum konsumierbaren Inhalt. Zugleich wirft die Geschichte die Frage auf, welche Opfer Familien unter dem Druck von Schulden und ökonomischer Aussichtslosigkeit zu bringen bereit sind – und wie schnell dabei selbst die intimsten Bindungen geopfert werden können. Die Show ist damit mehr als ein Schauplatz für Action und Spannung. Sie fungiert als Spiegel einer Gesellschaft, die Menschlichkeit zu einer verhandelbaren Größe degradiert hat. Leben und Tod verlieren ihre Unantastbarkeit, sobald sie in Quoten und Währungen übersetzt werden können. Genau darin liegt die eigentliche Wucht des Romans: Er führt uns nicht nur eine mögliche Zukunft vor Augen, sondern hält uns zugleich den Spiegel unserer eigenen Gegenwart hin.
Ein weiterer zentraler Aspekt ist die Frage nach der Macht von Konzernen und ihrer Rolle in einer Welt, in der staatliche Strukturen kaum noch eine Bedeutung haben. Die Show ist kein staatliches Projekt, sondern das Produkt eines gigantischen Unternehmens, das mit eiserner Hand nicht nur die Unterhaltungsindustrie, sondern im Grunde das gesamte gesellschaftliche Leben kontrolliert. Dieses Unternehmen entscheidet, wer lebt und wer stirbt, wer gesehen und wer vergessen wird – und niemand scheint mehr in der Lage zu sein, seine Macht zu hinterfragen. Reid stellt damit die brisante Frage: Wie viel Einfluss darf ein Konzern überhaupt haben, bevor er de facto die Welt regiert? In dieser dystopischen Vision wird deutlich, dass die Grenzen zwischen Wirtschaft, Politik und individueller Freiheit längst aufgehoben sind. Profit ist zur obersten Instanz geworden, und alles andere – Moral, Menschenrechte, selbst das Konzept von Demokratie – wurde diesem Diktat untergeordnet.
Besonders eindringlich geraten außerdem die Passagen, in denen Ava Reid die Umwelt dieser dystopischen Zukunft beschreibt. Der fortgeschrittene Klimawandel hat die Erde in eine unheimliche, kaum wiedererkennbare Landschaft verwandelt. Was einst vertraute Natur war, wirkt nun fremd, gefährlich und oft lebensfeindlich. Wälder sind durchzogen von bedrohlich veränderten Pflanzen, Gewässer haben ihre Reinheit verloren, und die Luft scheint von einer ständigen Anspannung erfüllt. Durch diese Welt streifen Tiere, die kaum noch etwas mit den Arten gemein haben, die wir heute kennen. Genetische Veränderungen und erzwungene Anpassungen an eine zerstörte Umwelt haben groteske, mitunter albtraumhafte Kreaturen hervorgebracht – Wesen, die gleichermaßen faszinieren wie abstoßen, die sich in ihrer monströsen Existenz jedoch als Spiegel des menschlichen Versagens erweisen. Denn; diese Mutationen sind mehr als bloße Schauermotive. Sie machen sichtbar, wie sehr der Mensch das natürliche Gleichgewicht aus den Angeln gehoben hat und wie endgültig die Folgen seines Handelns sein können. Besonders schockierend wirkt die Tatsache, dass einzig die nicht-mutierten Tiere noch als ohne Weiteres essbar gelten – und damit zu seltenen, beinahe luxuriösen Gütern geworden sind. Nahrung, die einst selbstverständlich war, wird in dieser Welt zu einer Kostbarkeit, und das Überleben hängt oft davon ab, ob man Zugang zu den letzten unveränderten Resten der Natur findet. Mit diesen Details verleiht Reid ihrer Erzählung eine beklemmende Realitätsnähe. Die Umwelt erscheint nicht als bloßer Hintergrund, sondern als zentrale Figur der Handlung – ein Mahnmal für Zerstörung und Anpassung, für Verlust und das monströse Erbe menschlicher Gier.
Und doch, zwischen all der Brutalität und Hoffnungslosigkeit, wächst etwas, das beinahe unmöglich scheint: eine Liebesgeschichte, die das eigentliche Herz des Romans bildet. Vorsichtig, fast scheu, entwickelt sich zwischen Inesa und Melinoë eine Beziehung, die von leiser Zärtlichkeit und unterdrückter Sehnsucht getragen wird. Gerade weil sie nie frei und unbeschwert sein darf, wirkt sie umso eindringlicher. Jeder Blick, jede Berührung steht unter dem Schatten von Unsicherheit und drohender Vergänglichkeit, und dennoch leuchtet in ihr ein Moment von Wärme auf, der die Dunkelheit dieser Welt für einen Augenblick durchdringt. Ava Reid gelingt es, diese queere Liebesgeschichte nicht als schmückendes Beiwerk, sondern als kraftvollen, unabdingbaren Kern ihrer Erzählung zu gestalten. Sie schreibt von einer Verbindung, die ebenso schön wie schmerzhaft ist, von Gefühlen, die sich trotz aller widrigen Umstände entfalten und gerade deshalb so zerbrechlich wirken. Bittersüß in ihrer Intensität, zugleich verletzlich und unerschütterlich, verstärkt diese Liebe die Tragik einer Welt, in der Menschlichkeit und Zuneigung kaum Raum haben – und macht den Verlust, den Schmerz, aber auch das Aufbegehren umso greifbarer.
„Fable for the End of the World“ ist eine Dystopie, die weniger gelesen als erlebt wird. Mit seiner dichten, fast greifbaren Atmosphäre und dem unerschütterlichen moralischen Gewicht fordert er seine Leser heraus, sich unbequemen Fragen zu stellen. Ava Reid entwirft nicht bloß eine dystopische Zukunft, sie richtet den Blick auf die Gegenwart, aus der diese Zukunft erschreckend logisch erwächst. Gerade deshalb hallt die Geschichte lange nach, wie ein Echo, das man nicht zum Verstummen bringen kann.
Zugegeben, nicht jede Passage hält die Spannung gleich hoch. Mitunter verliert sich der Text in Wiederholungen, die das Tempo bremsen und das Leseerlebnis etwas zäh machen können. Doch diese kleineren Schwächen nehmen der Geschichte nichts von ihrer Kraft. Im Gegenteil: Sie lassen die stärksten Szenen umso heller leuchten. Am Ende bleibt jedoch ein Buch, das ebenso beklemmend wie berührend ist – ein Werk, das nachhallt, weil es Fragen stellt, die keine einfachen Antworten kennen. Es ist ein Roman, der zwingt, über den Wert von Leben, über Macht, Gier und Hoffnung nachzudenken, und der mit einer Stimme spricht, die man so schnell nicht vergisst.
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