
Buchinformationen
| Titel | All Better Now |
| Band | 1 von 2 |
| Autor | Neal Shusterman |
| Verlag | Fischer Sauerländer |
| Übersetzung | Andreas Helweg |
| ISBN | 978-3-7373-7453-8 |
| Seitenzahl | 576 |
| Genre | Dystopie |
| Bewertung | 4 von 5 Sterne |
Klappentext
Ein beispielloses Virus breitet sich auf dem Planeten aus. Diejenigen aber, die überleben, sind … glücklich. Stress, Depression, Einsamkeit – alle negativen Gefühle sind plötzlich verschwunden. Immer mehr Genesene genießen das neue Glücksgefühl. Doch längst nicht alle, denn innere Zufriedenheit ist schlecht fürs Geschäft. Wirtschaftsbosse und Politiker brauchen die Unzufriedenheit ihrer Kunden oder Wähler. Und so beginnt ein gefährlicher Wettlauf um einen Impfstoff, der das Unglück zurückbringen soll.
Mariel lebt mit ihrer Mutter in einem verbeulten Ford Fiesta und wünscht sich nichts sehnlicher, als glücklich zu sein. Rons Vater ist Milliardär, doch obwohl ihm jeglicher Luxus offen steht, erscheint Ron das Leben sinnlos. Der Zufall bringt Mariel und Ron zusammen, und das Schicksal schleudert sie mitten hinein in den Machtkampf um eine neue Weltordnung.
Meine Meinung
Wenn Glück zur ansteckenden Pandemie wird: „All Better Now“ von Neal Shusterman entwirft eine düstere, zugleich interessante Near-Future-Dystopie, in der ein neues Virus namens Crown Royale die Erde heimsucht. Anders als bei klassischen Pandemien verbreitet sich hier jedoch keine Angst, sondern Euphorie. Wer das Virus überlebt, findet sich in einem Zustand tiefer Zufriedenheit wieder, frei von Stress, Depression, Neid oder Wut.
Diese radikale Umkehrung des klassischen Pandemieszenarios gehört zu den größten Stärken des Romans: Statt die Welt mit Angst, Isolation und Verzweiflung zu überziehen, stellt Shusterman eine Krankheit ins Zentrum, die scheinbar nur Gutes bringt – und genau darin liegt ihre unheimliche Kraft. Er zerlegt die vertrauten Tropen der Endzeitliteratur und erschafft ein Setting, das sich zugleich fremd und erschreckend vertraut anfühlt. Während man mit einer Seuche rechnet, die Tod und Chaos hinterlässt, sieht man sich einer Welle von Glückseligkeit gegenüber, die schleichend alle bekannten gesellschaftlichen Strukturen unterwandert. Diese subtile Verschiebung des Schreckens – weg vom Offensichtlichen hin zum Verführerischen – macht den Roman so beklemmend glaubwürdig und verleiht ihm eine psychologische Tiefe, die weit über typische Dystopie-Erzählungen hinausgeht.
Doch das Geschenk dieses allgegenwärtigen Glücks ist nicht nur ein Segen. Regierungen, Medien und Machtstrukturen geraten ins Wanken, denn ein Mensch ohne Angst, Ehrgeiz und Neid ist für die bestehenden Systeme kaum kontrollierbar. Während einige Organisationen mit allen Mitteln ein Heilmittel entwickeln wollen, formiert sich gleichzeitig eine Gegenbewegung, die das Virus aktiv verbreiten will, überzeugt davon, dass die Menschheit durch diesen Zustand der Gelassenheit erlöst werden könnte. Inmitten dieses moralischen Chaos stehen drei junge Figuren: Mariel, die immun gegen das Virus ist und darum besonders empfindsam für dessen Auswirkungen, Rón, der als gläubiger Verkünder den Zustand der ewigen Glückseligkeit preist, und Morgan, die das Virus auszulöschen sucht. Ihre Wege kreuzen sich in einer Handlung, die ebenso philosophisch wie emotional aufgeladen ist.
Der Roman stellt damit eine der interessantesten Fragen der modernen Dystopien: Was bedeutet es für uns als Menschen, wenn wir keine negativen Emotionen mehr empfinden könnten? Shusterman beleuchtet diese Utopie von allen Seiten. Auf der einen Seite liegt eine große Verheißung in dieser völligen Abwesenheit von Schmerz und Angst, eine Welt ohne Kriege und ohne psychisches Leid scheint greifbar. Gleichzeitig offenbart der Autor, wie fragil und gefährlich diese Vorstellung ist. Ohne Konkurrenzdenken und Unzufriedenheit geraten gesellschaftliche und wirtschaftliche Systeme ins Stocken, Fortschritt und Kreativität drohen zu erlöschen. Auch stellt sich die Frage nach dem freien Willen: Sind wir wirklich frei, wenn wir dauerhaft in einem künstlich erzeugten Zustand der Glückseligkeit verharren? Shusterman zwingt seine Leser, sich mit Empathie, Moral und dem Wert von Schmerz auseinanderzusetzen und dabei zu hinterfragen, ob ein Leben ohne Leid tatsächlich wünschenswert ist oder ob gerade die negativen Gefühle uns zu dem machen, was wir sind.
Die Charaktere dienen dabei weniger als klassische Heldenfiguren, sondern eher als Projektionsflächen für unterschiedliche Sichtweisen auf diese moralischen Dilemmata. Mariel kämpft um Authentizität und die Fähigkeit, auch Schmerz zuzulassen, Rón verkörpert den Eifer und die Überzeugung, dass Glück die einzige Wahrheit sei, und Morgan bringt eine intellektuelle Klarheit in das Chaos, die jedoch nicht frei von ethischen Spannungen ist. Shusterman schafft es, diese Stimmen ohne moralischen Zeigefinger nebeneinander existieren zu lassen. Statt einfacher Antworten bietet er ein Kaleidoskop von Perspektiven, die die Leser selbst zu einem Urteil herausfordern.
Allerdings hat dieser philosophische Tiefgang auch seinen Preis. „All Better Now“ ist kein Roman, den man einfach konsumiert, sondern ein Werk, das fordert, herausfordert und mitunter überfordert. Die Dichte an Reflexionen und theoretischen Überlegungen lässt die Geschichte streckenweise eher wie ein literarisches Gedankenexperiment wirken, wie ein ausuferndes Gedankenspiel eines Autors, der seine Leser zum Innehalten zwingt. Statt einer geradlinigen Dramaturgie entfaltet sich der Plot wie ein Netz aus Fragmenten: Nachrichtenmeldungen, persönliche Schicksale und globale Entwicklungen verweben sich zu einem Mosaik, das zwar sehr vielschichtig ist, aber auch den Eindruck erweckt, als stünde nicht die Handlung im Vordergrund, sondern das Konzept selbst. Wer eine klar strukturierte, mitreißende Story sucht, könnte sich in dieser Flut von Ideen verloren fühlen, da sie manchmal wie schimmernde, aber lose aneinandergereihte Puzzleteile wirken. Shusterman verzichtet bewusst auf klassische Spannungsbögen und erschafft stattdessen eine Art literarischen Brennspiegel, in dem er die Auswirkungen einer solchen Pandemie aus allen denkbaren Blickwinkeln beleuchtet. So entsteht weniger ein Roman im traditionellen Sinne, sondern vielmehr eine philosophische Bestandsaufnahme dessen, was passieren könnte, wenn eine Krankheit wie Crown Royale nicht Leid, sondern Glück verbreitet – und gerade diese Umkehrung macht das Buch so verstörend wie interessant.
Trotz seiner erzählerischen Eigenwilligkeit bleibt Shustermans Werk eine beeindruckende und geradezu furchtlose Vision. In einer Zeit, in der die Erinnerung an reale Pandemien noch wie ein Schatten über unserem kollektiven Bewusstsein liegt, entfaltet dieses Szenario eine bedrückende Authentizität und gleichzeitig eine verführerische Provokation. „All Better Now“ ist kein Roman, der tröstet oder beruhigt; es ist ein literarischer Spiegel, der uns zwingt, genauer hinzusehen – auf uns selbst, auf unsere Gesellschaft und auf die Frage, wie sehr wir Schmerz und Angst vielleicht brauchen, um Mensch zu sein. Shusterman wagt ein Experiment, das weit über konventionelles Erzählen hinausgeht: Sein Werk ist weniger eine klassische Geschichte als vielmehr ein vielschichtiger Diskurs in Romanform, ein philosophisches Labor, in dem Gedanken und Ethik aufeinanderprallen. Dass der Text dabei auf narrative Geradlinigkeit verzichtet und stattdessen ein kaleidoskopisches Bild von Möglichkeiten entwirft, ist kein erzählerischer Makel, sondern Teil seiner künstlerischen Absicht. Er fordert seine Leser heraus, sich in ein intellektuelles Labyrinth zu begeben, aus dem man nicht mit einfachen Antworten zurückkehrt, sondern mit einer Handvoll unbequemer, nagender Fragen – und genau das macht „All Better Now“ zu einem außergewöhnlichen Leseerlebnis, das die Grenzen des Genres bewusst verschiebt.
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